Mahaprabhujis Gnade für mich
Im folgenden Jahr verbrachte Mahaprabhuji die Zeit des Monsun im Dorfe Bola Guda. Zusammen mit anderen Schülern und Sannyasins war ich mit ihm. Täglich wurde Satsang gehalten. Es regnete oft, einmal sogar fünfzehn Tage lang ununterbrochen. Eines Morgens saß ich in Gedanken versunken in meinem Zimmer, denn es war mir in den Sinn gekommen, nach Jamnagar (Gujarat) zu reisen. Mahaprabhuji bemerkte im selben Moment meine Absicht und erschien in meinem Zimmer mit den Worten:
"Ich habe nichts dagegen, wenn du nach Jamnagar gehen willst."
Ich antwortete:
"Mahaprabhuji, ich würde es schon gerne tun, doch die Bahnstation von Somesar ist zwölf Kilometer von hier entfernt. Wie soll ich dorthin gelangen, solange dieser starke Regen anhält?"
Da lächelte Mahaprabhuji und sagte:
"Morgen in der Frühe wird es zu regnen aufhören und erst dann wieder beginnen, wenn du in Somesar angekommen und in den Zug gestiegen bist. Falls du kein Geld für die Fahrkarte besitzst, dann nimm es von mir."
Ich faltete meine Hände und bat:
"Mein Meister, Du bist allwissend und allgegenwärtig. Gib mir bitte zu der Zeit und an dem Ort das Geld, da ich es benötige."
Mahaprabhuji erteilte mir noch einige Aufträge:
"Nimm Purananda bis zum Ort Rani mit, und schicke ihn dann mit einem Pfund Kurkuma und etwas grünem Gemüse zurück.
Auch wurde die Bespannung meines Regenschirms von den Motten durchlöchert; laß eine neue Bespannung machen und sende ihn mir mit Purananda wieder, damit er hier bei Regen nützlich ist. Nun sage mir, soll ich dir ein wenig Geld mitgeben?"
Mich verbeugend wiederholte ich:
"Mein Herr, ich habe Dich schon gebeten, Du mögest mir das Geld geben, wann und wo ich dessen bedarf."
Ich hatte nur zwei Rupien in der Tasche, besaß aber vollständiges Vertrauen in Mahaprabhuji, daß er sich meiner annehmen werde, wenn es nötig sei.
Am nächsten Tag wanderte ich zusammen mit Purananda nach Somesar. Es war noch früh am Morgen, als wir in den Zug einstiegen. Nach einiger Zeit betraten zwei Schaffner unser Abteil und begannen die Fahrkarten zu prüfen. Als ich an die Reihe kam, fragten sie jedoch nicht nach meiner Karte, sondern verbeugten sich und luden mich ein, Tee und einen kleinen Imbiß einzunehmen. Ich dankte für ihr Angebot, lehnte es aber ab.
In Rani angekommen, begaben wir uns zum Basar, um die Bespannung für den Regenschirm zu kaufen. Ich erkundigte mich in einem der Läden nach dem Preis: Eine Bespannung kostete drei Rupien. Ich besaß aber nur zwei Rupien und konnte sie daher nicht machen lassen.
Da wir in Rani niemanden kannten, wußten wir nicht, wo wir die Nacht über bleiben sollten. Die Sonne war schon am Untergehen, und die Luft war kühl geworden. Mein Begleiter Purananda machte mir Vorwürfe:
"Warum hast du kein Geld mitgenommen? Jetzt müssen wir hungern."
Ich antwortete:
"Sei unbesorgt und vertraue auf Mahaprabhuji. Er wird alles einrichten. Der allgegenwärtige Gott ist immer bei uns."
Als wir so redeten, kamen wir am Polizeirevier vorbei. In einer plötzlichen Eingebung schlug ich Purananda vor:
"Komm, laß uns in die Wachstube gehen."
Inspektor Ram Singhji saß in seinem Büro. Sobald er uns erblickte, trat er heraus, begrüßte uns und bat uns, ihm in sein Zimmer zu folgen. Während unseres Gespräches erfuhren wir, daß der Inspektor ebenfalls ein Schüler Mahaprabhujis war und sich sehr freute darüber, uns getroffen zu haben. Er lud uns ein, seine Gäste zu sein, und wir nahmen dies dankbar an. Inspektor Ram Singh beauftragte einen seiner Untergebenen, für uns zwei Betten im ersten Stock herzurichten und Wasser zum Trinken und Baden bereitzustellen.
Ein köstliches Mahl wurde für uns gekocht, und wir nahmen ein prächtiges Abendessen ein. Dann bat ich den Inspektor:
"Wir brauchen für diesen Regenschirm eine neue Bespannung. In jenem Laden - ich nannte ihm den Namen - verlangt man dafür drei Rupien; ich habe aber nur zwei Rupien bei mir.
Wenn Sie den Inhaber fragen, ob er es mir für diesen Betrag mache, wird er vielleicht darauf eingehen."
Der Inspektor schickte sofort einen Polizisten zu dem Laden, um alle verfügbaren Regenschirmbespannungen herbei zu bringen. Bald darauf kehrte dieser mit den Stoffen und dem Ladeninhaber zurück. Der Inspektor trug dem Händler auf:
"Fertige für den Schirm von Sri Gurudeva eine neue Bespannung an, ich werde den Preis dafür bezahlen."
Dies geschah; und das Geld, das ich bei mir führte, blieb mir so erhalten. Wir verbrachten noch einige Zeit mit Satsang und begaben uns sodann zur Ruhe.
Am nächsten Morgen erhoben wir uns ziemlich früh und machten einen Spaziergang. Als wir auf unserem Weg das Haus von Sri R. Sharma, einem Beamten der Eisenbahngesellschaft, erblickten, schlug ich Purananda vor:
"Komm, wir wollen Sri Sharmaji besuchen."
Purananda bemerkte dazu nur:
"Du hast so eine Angewohnheit, zu jedermann ins Haus zu gehen. Sharmaji ist ein Beamter... wer weiß, ob er uns empfangen wird?"
Ich ermunterte ihn, sich keine Sorgen zu machen und mir ruhig zu folgen. An der Gartentür stand ein Wachposten. Diesen bat ich, Sri Sharmaji von meiner Ankunft Nachricht zu geben. Und kaum hatte er von uns gehört, da kam Sri Sharmaji auch schon heraus und begrüßte uns erfreut.
Er führte uns in sein Arbeitszimmer und lud uns zum Frühstück ein.
"Swamiji, würdest du die Güte haben, in meinem Haus das Mittagessen einzunehmen?" fragte er dann. Ich stimmte zu:
"Wie Sie belieben. Wir müssen aber zuvor ein wenig grünes Gemüse und ein Pfund Kurkuma einkaufen gehen."
Sri Sharmaji bot uns an, diese Dinge für uns vom Markt zu besorgen. Er rief seinen Diener, übergab ihm einen Zehnrupienschein und wies ihn an, um vier Rupien ein Pfund Kurkuma und um den Rest des Geldes grünes Gemüse zu kaufen. So hatte ich immer noch meine zwei Rupien bei mir.
Wir erhielten bei Sri Sharmaji ein herzhaftes Mittagessen, und danach schickte ich Purananda mit Regenschirm,Kurkuma und Gemüse zu Mahaprabhuji nach Bola Guda zurück.
Ich selbst fuhr nach Ahmedabad weiter.
Purananda aber überlegte bei sich:
"Die zwei Rupien, die Madhavananda bei sich trug, besitzt er noch immer, und doch sind all die Dinge, die Mahaprabhuji uns zu besorgen hieß, gekauft. Und Swami Madhavananda ist auch noch nach Ahmedabad weitergefahren. Wie ist das alles möglich?"
In ihm wuchs ein Verdacht, und er rief alle Schüler Mahaprabhujis, die im Ashram lebten, zusammen, um ihnen seine Erlebnisse in allen Einzelheiten zu berichten. Zum Schluß bemerkte er:
"Mahaprabhuji hat Madhavananda lieber als uns alle. Er scheint ihm ein Mantra mit besonderen Kräften gegeben zu haben, eines, das er niemandem sonst verliehen hat. Daher kommt es, daß in der Eisenbahn nie seine Fahrkarte kontrolliert, ihm statt dessen gar eine Erfrischung angeboten wird. Wird dagegen einer von uns ohne Karte angetroffen, heißen ihn die Beamten auszusteigen. Ganz gewiß ist dies die Wirkung eines besonderen Mantra!
Madhavananda besaß nur zwei Rupien, die kaum für die Fahrt von Somesar nach Rani reichen, und ich fragte mich, wie er all die Sachen für Mahaprabhuji kaufen wollte, wo wir bleiben und was wir essen sollten. In Rani hypnotisierte er zuerst den Polizeiinspektor, der uns daraufhin Unterkunft und Verpflegung schenkte und sogar die Bespannung für den Regenschirm bezahlte. Dann hypnotisierte er einen Bahnbeamten, der uns nicht nur ein ausgiebiges Mittagessen servieren ließ, der uns zudem ein Pfund Kurkuma und grünes Gemüse schenkte.
Madhavananda verfügt gewiß über magische Kräfte, die keiner von uns besitzt. Aber warum ist das so? Wir müssen am nächsten Vollmondtag beim Satsang mit Mahaprabhuji sprechen! Wir werden zu ihm sagen: ‘Auch wir haben auf viele weltliche Dinge verzichtet, um Deine Schüler zu werden. Du gabst Madhavananda ein Mantra, mit dem er den Willen anderer kontrollieren kann. Warum lehrtest Du es nicht auch uns? Warum werden wir so zurückgesetzt?’ "
Die Saat des Zweifels, welche in Puranandas Geist zu keimen begonnen hatte, begann sich auch unter den anderen Schülern Mahaprabhujis auszubreiten.
Zu Vollmond wurde ein großer Satsang abgehalten. Das Programm begann um neun Uhr vormittags. Nach dem Gebet und der Begrüßung von Mahaprabhuji zog Purananda Sri Bhur Singhji ins Vertrauen:
"Mahaprabhuji macht Unterschiede zwischen uns, seinen Schülern. Er hat all seine Kräfte nur an Madhavananda weitergegeben. Würdest du Mahaprabhuji bitten, er möge uns die gleichen Siddha-Mantras übermitteln, die er Madhavananda gelehrt hat."
In Gegenwart aller wandte sich der gerechte Sri Bhur Singh an Mahaprabhuji und bat:
"Herr der Barmherzigkeit, die Saat von Eifersucht und Zweifel hat im Geist deiner Schüler zu sprießen begonnen. Bitte entferne sie wieder."
Mahaprabhuji rief all seine Schüler, einschließlich Purananda, zu sich und fragte sie:
"Was bereitet euch Schmerzen, welcher Verdacht quält euch?"
Einstimmig sprachen die Schüler:
"Du behandelst uns nicht alle gleich. Du machst Unterschiede! Das Siddha-Mantra, das Madhavananda erhielt, wurde keinem von uns gegeben. Dieses Vashikarana-Mantra[1] macht, daß Madhavananda überall, wo er hinkommt, verehrt wird, während von uns keiner Notiz nimmt. Warum ist das so?"
Mahaprabhuji antwortete darauf:
"Gleichermaßen verteile ich meine Gnade auf euch alle. Aber ihr versteht nicht, sie in richtiger Weise anzunehmen und zu nützen, während Madhavananda stets im Schutze meines Segens bleibt. Meine Gnade ist wie das Licht der Sonne, die für alle Wesen scheint. Trotzdem sind nur wenige fähig, aus der Sonne ihre Kraft zu beziehen. Wer ist zu tadeln, wenn ihr meine Gnade, die für alle da ist, nicht zu eurem Vorteil zu nützen vermögt? Wollt ihr die Kunst erlernen, die Herzen anderer zu gewinnen, dann werde ich euch raten, einige Zeit mit Madhavananda zusammenzubleiben."
Als die Schüler das hörten, wurden sie noch mißtrauischer und zorniger. Sie sagten: "Wir sind nicht Madhavananda unterstellt, daß wir mit ihm leben sollen!"
Da bekräftigte Mahaprabhuji:
"Solange ihr unter solcher Eitelkeit leidet, könnt ihr überhaupt nichts lernen! Nur diejenigen, die ihr Ego überwunden haben und mir bedingungslos gehorchen, sind es, die alles finden werden. Selbstgerechte, Stolze und Eifersüchtige werden hingegen nichts erlangen."
[1]Vashikarana Mantra = Mantra, das alle Wunsch erfüllt
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