Herr der Barmherzigkeit, sage mir, was ich tun soll!
Swami Bhaskarananda, ein Sadhu aus dem Süden Indiens, war sehr eingebildet über seine Gelehrsamkeit. Beherrschte er doch Sanskrit, die Sprache der Gelehrten, und verstand sich auch in Hindi und Englisch geschliffen auszudrücken.
Durch wohlgefällige Reden hatte er sich Einfluß auf so manchen reichen und berühmten Mann, ja sogar auf Minister und Maharajas verschafft. Über seinen selbstgefälligen Stolz hinaus war er ein hochmütiger Mensch, der von sich behauptete, der größte Yogi ganz Indiens zu sein. Wo immer er hinkam, forderte er Beachtung und Bewunderung, und setzte sich - meist auf Kosten anderer - in den Mittelpunkt, um seine Redegewandtheit unter Beweis zu stellen.
Eines Tages hörte Swami Bhaskarananda vom alles überstrahlenden Ruhm Bhagwan Sri Deep Narayan Mahaprabhujis. Von Eifersucht gepackt, beschloß er, diesen aufzusuchen, um ihn vor seinen eigenen Schülern lächerlich zu machen.
Kurze Zeit darauf fuhr Swami Bhaskarananda in einem Impala-Wagen beim Khatu-Ashram vor. Über seinen kostbaren Kleidern trug er Ketten aus Perlen und Rubinen, und an seinen Füßen prangten goldene Sandalen. In seiner Selbstherrlichkeit sah Swami Bhaskarananda sich als den Jagatguru selbst und trat überheblich und großspurig vor Mahaprabhuji hin, ohne sich zu verbeugen. Er dachte bei sich:
"Diesem Maha Prabhu werde ich es schon zeigen, daß ihm ein echter Siddha-Yogi gegenübersteht..."
Mahaprabhuji allerdings hieß ihn mit unveränderlicher Freundlichkeit willkommen. Er sah ihn nur an - und ein Blick aus seinen göttlichen Augen genügte, um den Hochmütigen in tiefster Seele zu erschüttern. Mit einzigartiger göttlicher Kraft veränderte er den Sinn des Swami binnen eines Augenblicks vollkommen. Unter dem Blick der Allwissenheit schmolz dessen Ego dahin wie Schnee unter der Sonne. Der erkannte seine Fehler, die Hohlheit seines Stolzes und seiner Eitelkeit, und schämte sich zutiefst. Zugleich durchdrang ihn wie auch seine Gefährten ein unermeßliches Glücksgefühl.
Demütig verbeugte er sich vor Mahaprabhuji, faltete die Hände und sprach:
"Herr, ich erkenne meine zahlreichen schlechten Eigenschaften und üblen Gewohnheiten, die ich trotz aller Anstrengungen bis jetzt nicht aufzugeben vermochte. Du bist allwissend und nichts bleibt Dir verborgen. Völlig anders hatte ich mir Dich vorgestellt, und was ich nun erfahren durfte, ist ein göttliches Wunder - der Tag der unermeßlichen Gnade des Herrn ist heute für mich gekommen. Bis jetzt war ich von Stolz und Ego durchdrungen. Aber indem Du mich anblicktest, wurde ich von allen weltlichen Wünschen befreit, von Leidenschaft, Zorn, Gier, Anhaftung, Eitelkeit und Stolz. Glückseligkeit und Frieden erfüllen nun mein inneres Selbst. Dein Anblick, Deine Worte haben mein Herz in Nektar getränkt. Oh Herr der Barmherzigkeit, Du hast Deine Gnade über mich ausgegossen und mich gesegnet! Bitte, laß meine Seele für immer mit Deinem göttlichen Atma sich vereinen!
Vielen Sadhus und Swamis habe ich das Leben unerträglich gemacht und sie in Diskussionen über die heiligen Schriften mit der Schärfe spitzfindiger Logik besiegt.Nur um meinen Ruhm zu mehren, suchte ich sie zu verspotten. Wie schäme ich mich nun meiner boshaften Worte und niedrigen Gedanken. Der Schleier der Illusion, der meine Seele umfangen hielt, war dicht und schien undurchdringlich. - Du hast ihn entfernt.
Oh Herr der Barmherzigkeit, sage mir, was ich nun tun soll!"
Hierauf sagte Mahaprabhuji:
"Wenn dein Sinn mit deiner Ankunft hier rein geworden ist, so erkläre mir den Unterschied zwischen Prabhu und Mahaprabhu."
Swami Bhaskarananda gab zur Antwort:
"Bevor ich Dich sah, war es mir nicht möglich, zwischen Prabhu und Mahaprabhu zu unterscheiden. Aber heute, in Deinem göttlichen Licht, wurde mir Para-Vidya[1] zuteil.
Prabhu ist der formlose Gott - Nirguna - von dem Schöpfung, Erhaltung und Auflösung des Universums ausgehen. Nach seinem Gesetz müssen alle Wesen die Konsequenzen ihrer Karmas tragen.
Durch seine Maya sind alle Wesen mit den karmischen Fesseln gebunden. Mahaprabhu ist die göttliche Inkarnation. Er steht über Prabhu. Er verleiht das Wissen über Atma und Paramatma und gewährt jenen, die dies verdienen, Selbstverwirklichung.
Seit Urzeiten ist der Atma, obwohl dem Höchsten Atma zugehörig, von ihm getrennt. Nur der Satguru, Sri Mahaprabhuji, kann sie wieder vereinen. Mit dem Schwert des Wissens durchtrennt er die Fesseln der Anhaftung und Illusion und führt die Wesen zur Erfahrung ihres wahren Selbst.
Sri Mahaprabhuji vollbringt das, wozu Prabhu außerstande ist. Die von Prabhu erschaffenen Wesen leiden unter dem Elend und der Bedrängnis dieser Welt, ein Ergebener des Satguru Sri Mahaprabhuji wird jedoch stets beschützt sein."
Nun sagte Mahaprabhuji zu Bhaskarananda:
"Heilige und Weise haben die Pflicht, die Welt von ihrer Last zu befreien. Werden sie ihr hingegen selbst zur Bürde, so sind sie ein Unglück für das ganze Universum. Aufgabe des Sadhu ist es, dem Pfad der Rechtmäßigkeit zu folgen und sich hinzugeben, um andere vor einem falschen Weg zu bewahren. Ein Sadhu sei wie Gott Shiva."
In einem Bhajan erklärte Mahaprabhuji die äußeren Zeichen eines Sadhu:
SHIV RUP SANT MAHARAJ HE
Sadhus sind wie Shiva.
Sie ziehen nicht singend und tanzend von Haus zu Haus -
dann wäre ihr Ansehen gemindert, und man behandelte sie als armselige Bettler.
Sadhus brauchen weder Schauspiel noch Theater;
sie wohnen keinen Festen bei und sammeln keine Almosen.
Sadhus verweilen an einsamen Orten und nehmen an, was Gott ihnen zumißt.
Sie verschwenden ihre Zeit nicht mit magischen Kunststücken
und bringen auch ihren Schüler nichts dergleichen bei.
Auch halten sie sich von magischen Kräften fern
und setzen keinen Ehrgeiz darein, als Siddhas zu gelten.
Den physischen Körper zu schmücken ist kein Zeichen von Heiligkeit.
Einem Sadhu, der wie ein weltlicher Mann lebt, zollt niemand Respekt.
Swami Deep spricht:
Nur solche Sadhus sollen Narayana genannt werden,
die den Schülern die Wahrheit übermitteln können.
Um nicht weiter dem Zyklus von Geburt und Tod unterworfen zu bleiben, um nicht nochmals durch die 8,4 Millionen Lebensformen durchgehen zu müssen, so erklärte Mahaprabhuji, sollen die, die als Menschen geboren sind, dem Satguru folgen und auf dem Wege der Selbsterkenntnis Selbstverwirklichung erlangen; denn die Menschen zeichnen sich durch die Kraft ihres Intellekts aus, durch den sie zwischen gut und böse zu unterscheiden vermögen.
"Du sollst daher deine Lebenszeit nicht dem Ehrgeiz und der Ruhmsucht opfern. Mit deinem Reichtum prahlend willst du in der Welt als der Mächtigste gelten. Alle Riddhis und Siddhis möchtest du besitzen - doch diese sind nur irreführende Einbildungen, denn die Welt gleicht einem Traum. Nichts von dem, was du im Traum erfährst, ist Wirklichkeit und bleibt bei dir. Die Menschen, die in diese Welt der Trugbilder verwickelt sind, befinden sich in einer Art Traumzustand und werden fortfahren zu träumen bis zu dem Moment, da sie die Vergeblichkeit ihres Tuns erkennen."
Mahaprabhuji ermahnte Swami Bhaskarananda nachdrücklich, den richtigen Weg einzuschlagen. Denn Eitelkeit ist der größte Feind des Menschen. Sie zerstört sogar mächtige Könige und Helden. Eitelkeit kann uns in vielfältiger Weise verführen: durch Stolz auf Gelehrsamkeit, Reichtum, Macht, Jugend, sozialen Stand, vornehme Geburt, Schönheit oder Ruhm. Das Gefährlichste von all diesen ist das Ego, das von Ruhmsucht genährt wird, es zerstört den Menschen völlig.
Mahaprabhuji ermahnte seine Schüler, nicht in den tödlichen Sog der Ruhmsucht sich hineinziehen zu lassen, und sprach weiter:
"Heilige streben nicht nach Macht und Ruhm, auch verleiten weltliche Besitztümer sie nicht zu Stolz und Egoismus. Sie sind sich dieser Welt bewußt als eines Traums, als etwas Vorübergehendem, und lehnen es ab, sich an weltliche Güter und Beziehungen zu binden. So bleiben sie vollkommen unabhängig von dieser Welt."
Swami Bhaskarananda pries Mahaprabhuji die als fünfundzwanzigste Inkarnation Gottes[2]. Mahaprabhuji antwortete auf seine Frage, ob er alle Avatare* gesehen habe:
"Ja, ich kenne Gott Rama und Gott Krishna, die vor mir geboren wurden. Auch war ich bei den Hochzeitszeremonien für Brahma, Vishnu, Mahesh, Rama und Krishna zugegen."
Als Swami Bhaskarananda dafür einen Beweis haben wollte, sagte Mahaprabhuji:
"Ich bin der ewige, bewußte Brahman - Zeuge all dessen, was im Kosmos geschieht. Die Seele steht jenseits von Geburt und Tod - dies weiß nur der Erleuchtete; die Unwissenden sind sich dieser Wahrheit nicht bewußt.
Wird ihnen aber durch die Gnade des Satguru die göttliche Schau zuteil, so können auch sie das erkennen."
Die Frage nach dem wahren Weg beantwortete Mahaprabhuji so:
"Der wahre Weg ist das Sat Sanatan Dharma[3]. Aber in Indien, und auf der ganzen Erde, existieren Tausende von Glaubensrichtungen und Religionen, deren Anhänger behaupten, jeweils die ihrige sei die höchste und einzig wahre. Wahres Dharma jedoch ist frei von solchem Fanatismus. Die vollkommene Verwirklichung der Wahrheit aber ist nur möglich in völliger Ergebung an den Satguru."
Swami Bhaskarananda blieb noch für einige Zeit im Ashram und nahm voll Eifer und Hingabe Mahaprabhujis Lehren in sich auf. Dann zog er nach Andhar Pradesh und führte dort ein einfaches, einem Heiligen gemäßes Leben aufgrund der Prinzipien, die Mahaprabhuji ihn gelehrt hatte.
[1]Para Vidya = göttliches Wissen (para = vollkommen); im Gegensatz zu Apara Vidya = "unvollkommenes", weltliches Wissen.
[2]Die indische Philosphie nennt 24 Avatare oder Inkarnationen Gottes bis zur Zeit Buddhas.
[3]Sanatan Dharma = "wahre Verwandtschaft", Lehre von der wahren Verbindung der Seele mit Gott und Einheit aller Lebewesen.
Nächstes Kapitel: Mahaprabhujis Wunderheilung an dem Knaben Asha Ram
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