Trikaldarshi
Ein göttlicher Meister, dessen Wissen und Erfahrung unbegrenzt sind, steht über den Dimensionen von Raum und Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft offenbaren sich ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. Auch ein gewöhnlicher Mensch kann durch Yogaübung und intensive Meditation diese Siddhi, die Trikaldarshitva, erlangen, wenn er von einem Guru dahin geführt wird. Das ist keineswegs leicht zu erreichen, und Anweisung und Hilfe eines Meisters sind dazu unbedingt erforderlich.
Ein vollkommener Meister, der die Zukunft sieht, spricht auch für die Zukunft und handelt im Einklang mit ihren Gesetzen; seine Worte und Taten besitzen nicht nur heute, sondern für alle Zeit Gültigkeit.
Alles andere kann falsch sein, unterliegt der menschlichen Relativität des Erkennens - Eltern, Lehrer und Wissenschaftler können sich irren, die Worte eines Heiligen aber sind immer wahr. Wer göttliches Bewußtsein erlangt hat - das bedeutet, daß Wissender, Wissen und Gegenstand des Wissens eins geworden sind - besitzt Zugang zur Wirklichkeit.
Eines Tages traf Sri Devpuriji auf seinem gewohnten Morgenspaziergang einen Mann aus Kailash und begrüßte ihn mit folgenden Worten:
"Alles Gute dir und meinen Segen zu deiner bevorstehenden Hochzeit." Und er nannte ihm hierzu noch ein bestimmtes Datum.
Der Mann aber antwortete erstaunt: "Meister, Du mußt mich mit jemandem verwechseln. Ich bin bereits verheiratet, Kinder habe ich obendrein. Es ist völlig unwahrscheinlich, daß ich nochmals heiraten werde."
Sri Devpuriji gab zur Antwort:
"Sehr wohl weiß ich, daß du verheiratet bist. Aber deine Frau hat nur mehr drei Tage zu leben, und deine Kinder werden wieder eine Mutter brauchen."
Der Mann ging nach Hause zu seiner Familie, unfähig oder nicht willens dieser Vorhersage glauben zu schenken.
Wie Sri Devpuriji vorausgesagt hatte, geschah es: drei Tage später erkrankte seine Frau an einer Darmentzündung und starb binnen weniger Stunden.
Der junge Witwer heiratete zum zweiten Mal, und dies genau an dem Tag, den Sri Devpuriji genannt hatte.
Ein göttlicher Meister spricht immer die Wahrheit, sei sie nun angenehm oder nicht. Mag es im Augenblick noch so unwahrscheinlich erscheinen, so wird es sich doch stets als richtig erweisen.
Der Thakur[1] des Dorfes Choti Khatu hatte ein Kamel zum stattlichen Preis von siebenhundert Rupien gekauft und traf auf dem Heimweg Sri Devpuriji, seinen Meister. Der betrachtete das Kamel und sagte:
"Wirklich, es ist ein gutes Kamel. - Leider wirst du nur zwanzig Rupien dafür bekommen."
"Das kann nicht sein!" rief der Thakur aus. "Selbst wenn ich das Kamel fünf Jahr lang behielte, erzielte ich immer noch fünf- bis sechshundert Rupien dafür."
"Genau zwanzig Rupien", antwortete Sri Devpuriji. "Du wirst schon sehen."
An diesem Abend noch bekam der Thakur Besuch von einem Bekannten, der Interesse an dem Tier zeigte und meinte:
"Herr, ich würde dir das Kamel gerne abkaufen."
"Warum nicht", antwortete dieser. "Ich habe siebenhundert Rupien dafür bezahlt; wenn du willst, kannst du es zu demselben Preis haben."
"Ich kann den vollen Betrag nicht sofort bezahlen, doch wenn es dir recht ist, zahle ich zwanzig Rupien jetzt und den Rest, sobald ich ihn habe."
Der Thakur war einverstanden und so beschlossen sie den Handel. Der Mann nahm das Kamel sogleich mit; dieses jedoch verschied bereits am folgenden Tag infolge einer mysteriösen Krankheit.
Verzweifelt lief der neue Besitzer, der nun fürchten mußte, tief in Schulden zu stecken, zum Thakur und überbrachte ihm die schreckliche Nachricht:
"Was soll ich jetzt tun? Ich kann dir den Rest des Kaufpreises nicht bezahlen, denn ohne Kamel bin ich außerstande, das notwendige Geld zu verdienen!"
Der Thakur seufzte:
"Mache dir keine Sorgen darum. Mein Guru hat mir schon vorausgesagt, daß ich nur zwanzig Rupien für das Kamel erhalten würde, und ich will nicht noch einmal versuchen, einen Irrtum an ihm zu finden."
Derselbe Thakur ritt eines Tages durch die Wüste; da sah er ungefähr fünfhundert Meter weit entfernt vor sich Sri Devpuriji stehen. Energisch trieb er sein Pferd an, um seinen Guru schneller erreichen und begrüßen zu können. Doch so rasch das flinke Tier auch galoppieren mochte, sie gelangten um keinen Deut näher an den Meister heran. So ritt er Meile um Meile dem vermeintlich so nahen Ziel hinterher, bis sein Pferd völlig erschöpft war, doch die Entfernung zwischen ihm und dem Meister blieb unverändert.
Endlich rief er verzweifelt aus: "Göttlicher Meister, Ozean der Liebe und Güte, Barmherziger, bitte beende Dein Spiel mit mir, und gestatte mir, in Deine Nähe zu kommen!"
Und umgehend kam die Antwort:
"Es geziemt sich nicht, auf dem Rücken eines Pferdes zu einem Heiligen zu reiten. Nähere dich ihm demütig zu Fuß! Mag es sich um eine Kirche oder Moschee, um einen Tempel oder Ashram handeln, um einen Rabbi, Guru oder Priester - immer ist Demut geboten."
Der Thakur erkannte seinen Fehler und bat um Verzeihung, indem er sich vor seinem Meister verneigte.
Sri Devpuriji erklärte:
"Vor einem Heiligen lege dein Ego ab. Nur solche Pilgerschaft gereicht zum Segen. Der Darshan eines Heiligen kann den, der sich ihm reinen und demütigen Geistes nähert, in einem Augenblick von Unwissenheit und Wiedergeburt befreien. Sein Segen reinigt und tilgt die Last unzähliger Karmas und Sünden aus vergangenen Leben."
Der Thakur nahm diese Worte in seinem Herzen auf und verabschiedete sich sodann von seinem Meister. Als er sich etwa zehn Meter weit entfernt hatte, blickte er sich nochmals um, und vor seinen Augen löste Sri Devpurijis Körper sich in Licht auf und verschwand. Zu Hause angekommen aber fand er einen Brief vor, aus dem hervorging, daß Sri Devpuriji zum Zeitpunkt der Begegnung in seinem Ashram zu Kailash weilte.
Paramyogeshwar Sri Devpuriji hatte mehrere Anhänger im Dorf Sahjoli. Unter diesen war Jaya Ramji, ein Zimmermann, einer seiner besonders nahen Schüler, der sogar eine Zeitlang bei ihm in Kailash lebte. Als Sri Devpuriji eines Tages Sahjoli einen Besuch abstattete, verweilte er vor Jaya Ramjis Haus. Dessen älterer Bruder, Lashi Ramji, hatte sich gerade zur Ruhe begeben und stellte sich schlafend. Dies entging Sri Devpuriji freilich nicht, und er sprach:
"Ist deine Gastfreundschaft so gering, daß du dich nicht einmal erhebst, um einen Heiligen zu begrüßen, der gekommen ist, dich zu besuchen? Als Folge dieses Versäumnisses wirst du die nächsten sechs Monate im Bett verbringen, in welchem du dich offenbar so gerne aufhältst."
Nicht lange darauf fühlte sich Lashi Ramji krank und war dann wirklich sechs Monate lang ans Bett gefesselt - eine rauhe, aber wirksame Lehre.
Sri Devpuriji empfahl der Familie Jaya Ramjis, Sahjoli zu verlassen und in einen Ort namens Bugaradah zu ziehen.
"Ich sehe Rehe weiden, wo heute noch euer Haus steht," sagte er.
Da sie sich nicht vorstellen konnten, wie und warum das geschehen sollte, ließen sie seinen Rat außer acht. Jedoch erhob sich kurze Zeit später ein Streit zwischen ihnen und den übrigen Dorfbewohnern, und die Familie war gezwungen, unter unerfreulichen Umständen das Dorf zu verlassen. Sie ließen sich in Bugaradah nieder; dort lebt die Familie von Jaya Ramji bis zum heutigen Tag in unveränderter Hingabe für Sri Devpuriji. Wo in Sahjoli einst ihr Haus stand, streifen nun wilde Tiere umher - auch Rehe.
Trikaldarshi = "Dreiäugiger", d. h. Wissender über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
[1]Thakur = Herrscher, Fürst
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